Grenzüberschreitende und neuaufkommende Erkrankungen
Der Standort im niederländischen Lelystad spielt eine wichtige Rolle für die Überwachung von Krankheiten und eine schnelle Reaktion auf neue Bedrohungen
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Boehringer Ingelheim kämpft an zwei Fronten gegen Krebs. Zusammen mit Partnern auf der ganzen Welt konzentrieren sich die Wissenschaftler nicht nur auf die Tumorzellen, sondern versuchen auch, das Immunsystem gegen Krebs zu aktivieren. Dr. Clive Wood, Leiter Discovery Research bei Boehringer Ingelheim, erklärt, wie speziell und bedeutend T-Zellen sind und wie wir sie unterstützen können.
Unser Immunsystem gehört zu den komplexesten und stärksten Systemen unseres Körpers. Dadurch kann der Körper zwischen eigenen und fremden Zellen unterscheiden – und das ausgesprochen spezifisch – und dann die fremden Zellen zerstören, damit wir gesund bleiben. Viele Tumore verhindern aber leider diese Immunerkennung, indem sie die Aktivität der Immunzellen stören. Bereits eine kleine Anzahl an speziellen Mutationen in einem bestimmten Tumor kann dazu führen, dass das Immunsystem diesen nicht als fremd erkennt. Dann kann das Immunsystem nicht aktiv werden. Als Immunologe sehe ich eine Möglichkeit, dies zu ändern und das Immunsystem auf Trab zu bringen, damit es diese sogenannten kalten Tumore angreift.
Jahrzehntelang betrachteten viele die Idee, dass sich das Immunsystem zur Krebsbekämpfung nutzen ließe, als unrealistisch und seine Fähigkeiten als nicht erwiesen. In vielen Unternehmen war diese Forschung tabu. Ich habe selbst in der Branche einige sehr heftige Reaktionen auf solche Konzepte erlebt.
Zum Ende der 1990er-Jahre gab es einige Entdeckungen, die in den Jahren 2011 (Anti-CTLA4) und 2014 (Anti-PD1) zur Zulassung von Antikörpertherapien führten. Damit wurde diese ganz neue Front in der Krebsbekämpfung eröffnet, in der das Immunsystem gezielt angesprochen wird. Einige Patientinnen und Patienten konnten davon sehr profitieren – aber leider nur eine begrenzte Anzahl. Es wird heute nicht mehr infrage gestellt, ob das Immunsystem den Krebs besiegen kann. Vielmehr konzentriert man sich jetzt darauf, wie es zum Vorteil vieler Betroffenen genutzt werden kann.
Die klinische Forschung hat gezeigt, dass die aktuelle Welle von Checkpoint- Therapien bei Patientinnen und Patienten mit immunologisch aktiven und hochmutierten sogenannten heißen Tumoren anschlägt. Ihre Wirksamkeit bei sogenannten kalten Tumoren, denen diese Eigenschaften fehlen, ist allerdings begrenzt. Das Ziel für die nächste Behandlungswelle ist, das Immunsystem auf diese kalten Tumore aufmerksam zu machen. Darauf konzentriert sich Boehringer Ingelheim.
Das ist korrekt. Wir entwickeln gerade eine neue Medikamentengeneration, die die Wachstumstreiber für Krebszellen direkt angreifen. Daneben arbeiten wir an einer Förderung der Immunreaktion des Körpers auf Krebs, indem wir die Mechanismen des Tumors blockieren, die das Immunsystem hemmen, und für eine bessere Erkennung des Tumors als fremde Zellen sorgen. In beiden Bereichen bauen wir ein Portfolio aus First-in-Class-Innovationen auf. Die Kombination von auf die Tumorzellen gerichteten und auf die Immunzellen gerichteten Medikamenten könnte die größten Vorteile für die meisten Patientinnen und Patienten haben.
Das ist das Grundprinzip. Heiße Tumore enthalten T-Zellen und haben eine kontinuierliche Immunaktivität. In kalten Tumoren gibt es dagegen keine T-Zellen und sie unterdrücken das Immunsystem. Wir konzentrieren uns besonders auf Patientinnen und Patienten mit kalten Tumoren. Das Konzept der TE-Antikörper (T-cell engagers) beispielsweise ist ausgesprochen interessant.
TE-Antikörper unterstützen die Immunzellen des Körpers dabei, Krebs zu finden und zu zerstören. Diese Proteintherapien binden sowohl T-Zellen als auch Tumorzellen und bilden eine Brücke zwischen den beiden, über die die T-Zellen Toxine in die Tumorzellen leiten und damit deren Zerstörung verursachen. Wenn das Immunsystem selbst den Tumor nicht als fremde Zellen erkennen kann, sind die TE-Antikörper sozusagen die Helfer, die die T-Zellen an ihr Ziel bringt.
Unser Körper hat ein Repertoire für die Besonderheiten der einzelnen T-Zell-Rezeptoren, das mehrere Milliarden umfasst. Wenn unser Körper einem Pathogen ausgesetzt wird, wird eine kleine Untergruppe von T-Zellen aktiviert und ausgebaut, die genau auf diesen Eindringling abgestimmt ist. Wir brauchen die T-Zellen eines Krebspatienten, damit die Tumorzellen als ‚Eindringlinge‘ erkannt werden.
Ganz genau. Wie bei einem normalen Impfstoff, mit dem wir eine proaktive Reaktion gegen ein Bakterium oder ein Virus hervorrufen wollen, versuchen wir das jetzt bei Tumoren. Mit Krebsimpfungen können wir dem Körper sagen, welche T-Zellen er produzieren muss, um die benötigte Reaktion zu erreichen.
Onkolytische Viren können Tumorzellen selektiv abtöten, ohne normale Zellen dabei zu schädigen. Neben dieser direkten Abtötung von Tumorzellen kann ein onkolytisches Virus außerdem die Erkennung von Tumorzellen als fremd beschleunigen. über den genauen Ablauf haben wir noch viel zu lernen, aber Fragmente von sterbenden Krebszellen in Kombination mit immunaktivierenden Signalen rund um den Tumor könnten die Immunreaktion verbessern.
Die Ergebnisse aus vielen unterschiedlichen Quellen deuten darauf hin, dass wir die Immunreaktion durch einen vielseitigen Einsatz von Krebs-Antigenen verstärken können. In der vorklinischen Phase weisen wir eine stärkere Reaktion nach, wenn wir zunächst einen Krebsimpfstoff (‚prime‘) von AMAL Therapeutics und dann ein onkolytisches Virus mit den gleichen Antigenen (‚boost‘) einsetzen. Dies untersuchen wir jetzt in klinischen Studien. Außerdem bauen wir weitere ‚prime-boost‘-Kandidaten. Der jüngste, der jetzt in die präklinische Entwicklung geht, enthält sechs unterschiedliche potenzielle Krebs-Antigene, darunter auch eines mit einer speziellen Mutation von KRAS.
Um medizinische Durchbrüche für unsere Patientinnen und Patienten zu erreichen, müssen wir mit den besten und klügsten Köpfen auf der ganzen Welt zusammenarbeiten. Externe Partnerschaften sind für unsere Innovationsstrategie sehr wichtig. Einige der jüngsten Übernahmen haben unsere Möglichkeiten gestärkt, darunter AMAL Therapeutics in Genf und ViraTherapeutics in Innsbruck mit der onkolytischen Virustechnologie. Hinzu kommt der Erwerb von Labor Dr. Merk & Kollegen (heute: BI Therapeutics) in Ochsenhausen, durch den wir ein hohes Maß an Expertise in der Prozessentwicklung, Herstellung und analytischen Charakterisierung von viralen Therapeutika wie onkolytischen Viren hinzugewonnen haben.
Wir erfahren immer mehr über zusätzliche Zellarten in der Mikroumgebung des Tumors und wie diese möglicherweise die Fähigkeit des Immunsystems beeinflussen, den Tumor zu bekämpfen. Diese anderen Zellarten könnten wichtig sein, um kalte Tumore in heiße zu verwandeln. Ein spannendes Beispiel kommt aus unserer neuen Partnerschaft mit Northern Biologics. Dabei handelt es sich um einen monoklonalen Antikörper in der präklinischen Entwicklung, der ein Protein im Tumorstroma angreift.
Wir haben im Augenblick ein sehr starkes Onkologie-Entwicklungsportfolio in der Frühphase, bei dem sich über 14 immunonkologische Projekte in Phase I und der präklinischen Entwicklung befinden. Ab 2024 dürfte eine sehr aufregende Zeit für potenzielle Markteinführungen von neuen Medikamenten für Krebspatienten anbrechen.